Deutschlands Wirtschaft im Realitätsschock

Von Paul Vossiek

Die Zahlen, die uns aus der wirtschaftlichen Statistik entgegenschlagen, sind heute mehr als nüchterne Daten. Sie sind das protokollierte Ende einer Illusion. Nach zwei Jahren der Rezession kann Deutschland auch 2025 kaum Wachstum vorweisen. Nur noch 26 Prozent der Unternehmen bezeichnen ihre Geschäftslage als gut. Nach zwei Jahren der Schrumpfung erwarten Ökonomen für das laufende Jahr bestenfalls ein kaum wahrnehmbares Wachstum von 0,1 Prozent. Das sind nicht die Symptome einer vorübergehenden konjunkturellen Delle. Das ist die Folge eines Wirtschaftsmodells, das auf Illusionen gebaut war, die nun eine nach der anderen zerbrechen.

Die vielleicht schmerzhafteste dieser Illusionen war die Überzeugung, dass hervorragende Produkte und etablierte Marktpositionen allein genügen würden, um Deutschlands wirtschaftliche Vorrangstellung zu sichern. Wir glaubten, dass Ingenieurskunst, präzise Fertigung und solide Qualität unseren Wohlstand sichern würden. Wir glaubten, dass, wer in bestehenden Märkten führt, auch die Zukunft gestalten wird. Und wir glaubten, dass wirtschaftliche Partnerschaften mit autoritären Regimen – solange sie profitable Geschäfte ermöglichten – keine politischen Risiken bergen würden. Jede dieser Annahmen hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Und während die politische Debatte im Inland noch immer um die absurde Frage kreist, welche Regierung dafür nun die Schuld trägt, übersehen wir die fundamentale Wahrheit: Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine demütigende Transformation durchlaufen, vom Erfinder zum Nachahmer, vom Pionier zum Follower, vom Kategorieschöpfer zum Zulieferer der Konkurrenz.

Ein Abstieg vom Erfinder zum Zulieferer

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, was Deutschland einmal war. Wir sind das Land, das den Buchdruck erfand und damit die Wissensrevolution ermöglichte. Das Land, das das Automobil entwickelte und eine ganze Industrie schuf. Das Land, das den ersten funktionsfähigen Computer baute und die Digitalisierung mitbegründete. Deutschland war über Jahrhunderte hinweg nicht bloß gut darin, bestehende Produkte zu verbessern – es definierte ganze Produktkategorien neu und schuf Märkte, wo vorher keine existierten. Diese Fähigkeit zur kategorieschaffenden Innovation war keine Folklore, sondern der Kern unseres wirtschaftlichen Erfolgsmodells.

Doch irgendwann, schleichend und fast unbemerkt, vollzog sich eine fatale Verschiebung. Statt neue Produktkategorien zu schaffen, konzentrierten wir uns darauf, in bestehenden Kategorien besser zu werden. Statt Märkte zu definieren, versuchten wir, in von anderen definierten Märkten Marktanteile zu erobern. Der Verbrennungsmotor wurde perfektioniert, während Tesla das Elektroauto zum Massenprodukt machte und damit nicht nur ein Antriebskonzept, sondern eine ganze Vorstellung von Mobilität neu definierte. BYD und andere chinesische Hersteller folgten – und überholten uns nicht etwa, weil ihre Ingenieure besser wären, sondern weil sie verstanden hatten, dass die wahre Zukunft nicht in der Optimierung des Bestehenden liegt, sondern in der Schaffung des Neuen.

Die deutsche Automobilindustrie, einst unbestrittener Weltmarktführer und Innovationstreiber, wurde in wenigen Jahren zum Nachzügler in der wichtigsten technologischen Transformation ihrer Geschichte. Heute kaufen deutsche Premiumhersteller Batteriezellen aus Asien, Software-Architekturen von amerikanischen Tech-Konzernen und Halbleiter aus Taiwan und Korea. Wir sind stolz, wenn wir diese Komponenten „gut integrieren“ – eine bemerkenswerte Bescheidenheit für ein Land, das einmal beanspruchte, die Standards der Branche zu setzen. Aus Kategorieschöpfern wurden Systemintegratoren, die von der Innovationskraft anderer abhängig sind.

Doch es ist nicht nur die Automobilindustrie. Die deutsche Softwareindustrie, einst mit SAP stolzer Weltmarktführer im Enterprise-Bereich, hat die Transformation zur Cloud-Infrastruktur und zu KI-getriebenen Geschäftsmodellen weitgehend verschlafen. Während amerikanische Plattformen wie Microsoft, Amazon und Google die digitale Zukunft gestalten, optimieren deutsche Unternehmen bestehende ERP-Systeme. Wo sind die deutschen Antworten auf ChatGPT, auf die generative KI-Revolution, die gerade ganze Industrien umkrempelt? Sie existieren nicht, versanden in Forschungsinstituten oder kränkeln in Start-ups, denen es an Risikokapital und Netzwerkeffekten fehlt.

In der Halbleiterindustrie, der Basistechnologie der digitalen Welt, ist Deutschland längst zum Zuschauer geworden. Die modernsten Chips werden in Taiwan produziert, die innovativsten Designs kommen aus den USA, die größten Kapazitäten baut China auf. Deutsche Unternehmen liefern Produktionsmaschinen – eine wichtige Zulieferleistung gewiss, aber weit entfernt von der strategischen Kontrolle über die Technologie selbst. Wir haben eine Industrie, die unverzichtbare Werkzeuge herstellt, aber nicht mehr die Produkte, für die diese Werkzeuge genutzt werden. Das ist die Definition eines Zulieferers.

Selbst in traditionellen Stärkefeldern wie dem Maschinenbau zeigt sich eine besorgniserregende Tendenz. Deutsche Maschinen sind nach wie vor präzise, zuverlässig, hochwertig. Doch während wir mechanische Präzision perfektionierten, verlagerte sich der Wettbewerb auf intelligente, vernetzte Systeme. Die Maschine der Zukunft ist nicht die, die am genauesten fräst, sondern die, die durch Sensorik, KI und Vernetzung selbstlernend ihre Prozesse optimiert und sich nahtlos in digitale Ökosysteme integriert. Auch hier droht Deutschland, vom Definieren der Kategorie zum Nachvollziehen fremder Standards überzugehen.

Diese Verschiebung vom Erfinder zum Nachahmer ist nicht das Resultat mangelnder technischer Kompetenz. Deutsche Ingenieure sind nach wie vor hervorragend ausgebildet, deutsche Forschungseinrichtungen produzieren exzellente Grundlagenforschung, deutsche Facharbeiter sind hoch qualifiziert. Das Problem liegt tiefer: Es ist ein Versagen der strategischen Vision, ein Mangel an Mut zum radikalen Neuanfang, eine Trägheit, die aus vergangenen Erfolgen geboren wurde. Wer in etablierten Kategorien Weltmarktführer ist, scheut das Risiko, diese Kategorien durch eigene Innovation zu kannibalisieren. Lieber optimiert man das Bestehende, bis ein Konkurrent von außen die Spielregeln ändert – und plötzlich ist die mühsam verteidigte Marktführerschaft wertlos, weil das Spiel ein anderes geworden ist.

Die Autokratenfalle: Wenn Partner zu Gegnern werden

Doch diese Produktschwäche wäre allein vielleicht noch handhabbar gewesen, wenn nicht eine zweite fundamentale Illusion zerbrochen wäre: der Glaube an die Verlässlichkeit wirtschaftlicher Partnerschaften mit autoritären Regimen. Deutschland hat seine wirtschaftliche Architektur über Jahrzehnte auf zwei gefährlichen Abhängigkeiten aufgebaut – von russischer Energie und chinesischen Absatzmärkten. Beide erweisen sich nun als strategische Fehlkalkulationen von historischem Ausmaß.

Wladimir Putins Russland lieferte über 50 Prozent der deutschen Erdgasimporte. Die deutsche Industrie, energieintensiv und auf stabile, günstige Versorgung angewiesen, hatte sich willentlich und wider alle geopolitischen Warnungen in diese Abhängigkeit begeben. Nord Stream 2 wurde nicht gegen, sondern mit aktiver Unterstützung großer Teile der deutschen Wirtschaft vorangetrieben. Die Logik war bestechend einfach: Russland braucht unser Geld, wir brauchen ihr Gas – eine gegenseitige Abhängigkeit, die Stabilität garantiert. Diese Rechnung ging auf, solange Putin nach den Regeln der wirtschaftlichen Rationalität spielte. Als er diese Regeln brach und Gas zur Waffe machte, war Deutschland ihm ausgeliefert.

Die Folgen sind verheerend. Die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte sind erheblich gestiegen – ein Kostenschock, den viele Unternehmen nicht absorbieren können, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Wir haben Putins Krieg gegen die europäische Ordnung mitfinanziert, während unsere eigene Industrie unter explodierenden Energiekosten ächzt. Das ist die bittere Ironie einer Außenpolitik, die Wirtschaft und Sicherheit für getrennte Sphären hielt und nun lernen muss, dass wirtschaftliche Abhängigkeit politische Erpressbarkeit bedeutet.

Und als hätte diese Lektion nicht gereicht, eröffnete Donald Trump eine zweite Front. Seine angekündigten Zölle – 10 Prozent auf alle Importe, 20 Prozent auf EU-Waren, 25 Prozent auf europäische Autos – zielen direkt ins Herz der deutschen Exportwirtschaft. Bereits die Ankündigung ließ den DAX einbrechen, der heftigste Absturz seit dem Ukraine-Krieg 2022. Trump behandelt Deutschland nicht als Partner, sondern als wirtschaftlichen Gegner, den es zu schwächen gilt. „America First“ bedeutet in seiner Lesart: Europa zahlt.

Die Ironie ist bitter. Deutschland hat sich über Jahrzehnte als Musterknabe der regelbasierten internationalen Ordnung verstanden, hat auf multilaterale Institutionen gesetzt, hat Freihandel gepredigt und praktiziert. Nun erleben wir, wie zwei autoritäre Führer – der eine im Osten, der andere im Westen – diese Ordnung mit Füßen treten und Deutschland als Geisel nehmen. Putin nutzt Energie als Waffe, Trump nutzt Zölle als Waffe. Beide haben verstanden, was die deutsche Politik und Wirtschaft lange verdrängt haben: In einer Welt, in der Autokraten Wirtschaft als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln verstehen, wird, wer auf gegenseitige Abhängigkeit setzt, zum Spielball fremder Machtinteressen.

Warum die Industrie mitverantwortlich ist

Es wäre jedoch zu einfach und zu bequem, die Verantwortung für Deutschlands wirtschaftliche Misere allein bei Putin und Trump abzuladen. Sie sind Katalysatoren, Auslöser, Stresstest für ein System, das bereits zuvor fragil war. Die tieferen Ursachen der Krise liegen im Versagen großer Teile der deutschen Industrie selbst – im Management, in den Vorstandsetagen, in den strategischen Entscheidungen der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Es ist ja bemerkenswert: Die gleichen Unternehmen, die heute über hohe Energiepreise klagen, haben über Jahre hinweg die Abhängigkeit von russischem Gas nicht nur in Kauf genommen, sondern aktiv verteidigt. Die gleichen Konzerne, die heute Trumps Zölle als existenzbedrohend bezeichnen, haben versäumt, ihre Abhängigkeit vom US-Markt durch echte Innovation und Diversifikation zu reduzieren. Und die gleichen Industriekapitäne, die heute nach staatlicher Hilfe rufen, haben in guten Jahren lieber Dividenden ausgeschüttet als in zukunftsweisende Forschung investiert. Das ist keine Polemik, das sind dokumentierte Tatsachen.

Die Trägheit hat System. Warum sollte ein Vorstand, dessen Bonus an kurzfristige Quartalsergebnisse gekoppelt ist, das Risiko einer teuren, langwierigen Transformation eingehen? Warum sollte ein Unternehmen, das mit etablierten Produkten satte Gewinne macht, in disruptive Technologien investieren, die das eigene Geschäftsmodell kannibalisieren könnten? Warum sollte eine Industrie, die über Jahrzehnte politischen Schutz genoss, den schmerzhaften Weg der Erneuerung gehen, wenn sie darauf hoffen konnte, dass der Staat sie im Zweifel rettet? Diese Fragen sind rhetorisch – und ihre Antworten erklären, warum Deutschland die Produktinnovation verpasst hat, warum wir vom Erfinder zum Nachahmer wurden, warum wir heute chinesische Batterien kaufen, statt sie selbst zu entwickeln.

Es gibt eine tiefere Wahrheit, die ausgesprochen werden muss: Große Teile der deutschen Industrie haben sich in ihrer Komfortzone eingerichtet. Sie haben vergessen, was ihre Vorgängergenerationen auszeichnete – die Bereitschaft, das Risiko des Scheiterns für die Chance des Durchbruchs zu akzeptieren. Stattdessen herrschte eine Kultur der Risikovermeidung, der Inkrementaloptimierung, der Besitzstandswahrung. Man wollte den Status quo verteidigen, nicht die Zukunft gestalten. Und während deutsche Konzerne in endlosen Strategiesitzungen über die „Transformation“ diskutierten, bauten chinesische Unternehmen Gigafactories, entwickelten amerikanische Start-ups KI-Plattformen und schufen israelische Gründer neue Produktkategorien.

Die Mitverantwortung der Industrie zeigt sich auch in ihrer China-Strategie. Getrieben von der Verlockung eines gigantischen Absatzmarktes, haben deutsche Konzerne immer mehr Know-how und Produktionskapazität nach China verlagert. Die Rechnung war einfach: Technologietransfer gegen Marktzugang. Doch was kurzfristig als clevere Geschäftsstrategie erschien, erweist sich nun als strategischer Fehler. China hat das Know-how absorbiert, eigene Champions aufgebaut und ist in vielen Bereichen vom Schüler zum Konkurrenten geworden. Deutsche Unternehmen stehen nun nicht nur in Abhängigkeit von einem autoritären Regime, sondern konkurrieren mit Firmen, die sie selbst ausgebildet haben – und die nun mit massiven staatlichen Subventionen ausgestattet sind.

Die bittere Wahrheit ist: Die deutsche Industrie hat den Wandel nicht aktiv gestaltet, sondern gehofft, ihn aussitzen zu können. Sie hat nicht auf die Zukunft gesetzt, sondern auf die Verlängerung der Vergangenheit. Und nun, da die Rechnung präsentiert wird, da die Abhängigkeiten sich als Fesseln erweisen, da die ausbleibende Produktinnovation als Wettbewerbsnachteil zurückschlägt, klingt der Ruf nach staatlicher Hilfe zuweilen nach dem Versuch, die Konsequenzen eigener Versäumnisse auf die Allgemeinheit abzuwälzen.

Was jetzt zu tun ist

Wenn Illusionen zerbrechen, bleibt die Frage: Was kommt danach? Nostalgie ist keine Option. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, können nicht zu einer Welt zurückkehren, in der deutsche Ingenieurskunst allein ausreichte, in der russisches Gas billig und reichlich floss, in der amerikanische Präsidenten verlässliche Partner waren. Diese Welt existiert nicht mehr – vielleicht hat sie nie wirklich existiert, und wir haben uns nur erfolgreich selbst belogen. Was wir brauchen, ist ein nüchterner Realitätssinn, gepaart mit der Bereitschaft zu grundlegenden Reformen. Nicht ideologiegetrieben, nicht parteipolitisch motiviert, sondern pragmatisch und zielorientiert.

Die gute Nachricht ist: Deutschland ist nicht am Ende. Wir haben nach wie vor exzellente Forschungseinrichtungen, hoch qualifizierte Arbeitskräfte, eine starke industrielle Basis und – was oft unterschätzt wird – eine demokratische Kultur, die Anpassung und Reform ermöglicht, ohne in autoritäre Reflexe zu verfallen. Was uns fehlt, ist nicht das Potenzial, sondern der politische und wirtschaftliche Wille, dieses Potenzial zu entfesseln. Wir brauchen keine Revolution, sondern eine fundamentale Reform unserer wirtschaftlichen Strukturen, unserer Innovationskultur, unserer strategischen Ausrichtung.

Der erste Schritt ist die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität. Wir müssen uns aus den Abhängigkeiten befreien, die uns erpressbar machen. Das bedeutet konkret: Der Ausbau erneuerbarer Energien ist nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern eine Frage der nationalen Sicherheit. Jedes Windrad, jede Solaranlage, jeder Stromspeicher macht uns unabhängiger von autoritären Energielieferanten. Die Energiewende ist Deutschlands Weg aus Putins Würgegriff – und sie senkt langfristig die Energiekosten, stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit und öffnet neue Märkte für deutsche Technologie. Doch diese Transformation erfordert massive Investitionen, die unter den aktuellen haushaltsrechtlichen Zwängen kaum darstellbar sind. Die Schuldenbremse in ihrer derzeitigen Form unterscheidet nicht zwischen konsumtiven Ausgaben, die zukünftige Generationen belasten, und Investitionen, die ihnen Handlungsspielräume eröffnen. Diese Unterscheidung müssen wir vornehmen. Kreditfinanzierte Investitionen in Infrastruktur, in Energieversorgung, in Bildung und Forschung sind keine Belastung der Zukunft – sie sind deren Voraussetzung.

Der zweite Schritt ist die Wiederbelebung der Innovationskraft. Wir müssen vom Nachahmer wieder zum Erfinder werden, vom Follower zum Pionier. Doch das geschieht nicht von selbst. Es erfordert einen Staat, der nicht nur reguliert und verwaltet, sondern der strategisch in Zukunftsmärkte investiert. Die großen technologischen Durchbrüche der Vergangenheit – vom Internet über Touchscreens bis zu mRNA-Impfstoffen – basierten auf geduldigen staatlichen Investitionen, die Risiken eingingen, wo private Akteure zurückschreckten. Wir brauchen einen unternehmerischen Staat, der nicht Konkurrent des Marktes ist, sondern dessen Ermöglicher. Die Bundesagentur für Sprunginnovationen muss massiv ausgebaut werden, nach dem Vorbild der amerikanischen DARPA. Sie soll nicht Forschung im Allgemeinen fördern, sondern konkrete Missionen definieren – von der Batterietechnologie der nächsten Generation über KI-Anwendungen in der Produktion bis hin zu neuen Materialien für die Kreislaufwirtschaft – und die nötigen Akteure koordinieren und finanzieren.

Doch staatliche Investitionen allein genügen nicht. Wir müssen auch das Innovationsökosystem grundlegend reformieren. Deutsche Hochschulen sind Orte exzellenter Grundlagenforschung, aber viel zu selten Brutstätten für Unternehmensgründungen. Der Transfer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis muss zum Kernauftrag öffentlich finanzierter Forschung werden. Patente, Ausgründungen und Industriekooperationen müssen bei Berufungen und Evaluierungen gleichwertig neben Publikationen zählen. Wir brauchen professionelle Gründungszentren an allen Universitäten, transparente Verwertungsregeln für geistiges Eigentum und staatliche Matching-Fonds, die private Investitionen in Hochschulausgründungen ergänzen. Das ist keine Ökonomisierung der Wissenschaft, sondern die Anerkennung, dass Innovation nicht in der Publikation endet, sondern in der Anwendung beginnt.

Der dritte Schritt ist der radikale Abbau von Bürokratie. Ein überbordendes Regelwerk macht Deutschland für Investoren und Gründer unattraktiv. Doch Bürokratieabbau darf kein Kahlschlag sein, der berechtigte Schutzinteressen ignoriert. Wir brauchen ein systematisches Überprüfen aller Regulierungen auf ihre tatsächliche Wirksamkeit. Alles, was nicht nachweisbar seinen Zweck erfüllt oder mehr schadet als nutzt, muss weg. Die Antwort auf komplexe Genehmigungsverfahren ist nicht Deregulierung, sondern Digitalisierung und Vereinfachung. Ein Unternehmen sollte in unter einer Stunde gegründet werden können, über ein zentrales digitales Portal, das alle relevanten Behörden vernetzt. Wenn andere es können, können wir es auch.

Der vierte Schritt ist die Investition in die Infrastruktur – physisch wie digital. Eine moderne Wirtschaft kann nicht auf bröckelnden Brücken, verstopften Autobahnen und löchrigem Mobilfunknetz gedeihen. Deutschland hat über Jahre hinweg seine Substanz vernachlässigt, hat Investitionen verschoben, hat Verschleiß hingenommen. Diese Rechnung kommt nun zurück. Wir brauchen einen Infrastruktur-Investitionspakt, der nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten denkt. Verkehrswege, Energienetze, Glasfaser und 5G – das sind keine Luxusgüter, das ist die Grundversorgung einer modernen Wirtschaft. Und sie müssen so finanziert werden, dass sie kommenden Generationen zur Verfügung stehen, nicht als Schuldenlast, sondern als produktives Kapital.

Der fünfte Schritt ist die Stärkung der Humanressourcen. Alle Investitionen in Maschinen und Infrastruktur nützen nichts, wenn qualifizierte Menschen fehlen. Deutschland altert, und ohne Zuwanderung wird der Fachkräftemangel unsere Wirtschaft lähmen. Doch Zuwanderung muss auch attraktiv sein. Wenn Ausländerämter nur auf Deutsch kommunizieren, wenn Visa-Verfahren Monate dauern, wenn Qualifikationen nicht anerkannt werden, dann werden die Talente nach Kanada, Australien oder in die USA gehen. Wir müssen um qualifizierte Menschen werben wie Unternehmen um Kunden werben – mit klaren Angeboten, einfachen Prozessen, echter Willkommenskultur. Zugleich müssen wir unser eigenes Bildungssystem reformieren, lebenslanges Lernen zur Normalität machen, duale Ausbildungen aufwerten und Weiterbildung als selbstverständlichen Teil der Erwerbsbiografie etablieren.

Der sechste Schritt ist eine Handelspolitik, die Freiheit mit Fairness verbindet. Wir wollen Freihandel, aber nicht auf Kosten unserer Werte und nicht zu Bedingungen, die strukturelle Nachteile zementieren. Handelszugang zum europäischen Markt muss mit gleichwertigem Zugang für europäische Unternehmen zum Partnermarkt einhergehen. Länder, die ihre eigene Wirtschaft massiv subventionieren, können nicht erwarten, frei in unserem Markt zu agieren. Und Staaten, die elementare demokratische Standards verletzen, sollten keinen privilegierten Zugang zu unserem Wohlstand haben. Das ist keine Abschottung, das ist Reziprozität. Das ist nicht Protektionismus, das ist Fairness. Wir müssen lernen, unsere Interessen entschlossener zu vertreten – nicht aggressiv, aber selbstbewusst.

Eine Frage der Haltung

Am Ende ist all das auch eine Frage der Haltung. Deutschland hat sich über Jahre hinweg in einer Rolle der Besitzstandswahrung und Zögerlichkeit eingerichtet. Wir haben darauf vertraut, dass die Welt sich an unsere Vorstellungen anpasst, statt selbst vorauszugehen. Wir haben gehofft, dass andere die Risiken der Innovation tragen, während wir die Ernte einfahren. Wir haben geglaubt, dass moralische Überlegenheit wirtschaftliche Rückständigkeit kompensieren kann. All diese Haltungen haben uns in die Sackgasse geführt, in der wir uns heute befinden.

Die Liberalen Demokraten stehen für eine andere Haltung. Wir glauben an die Gestaltungskraft des Politischen. Wir glauben an die Innovationskraft einer Gesellschaft, wenn man ihr die Fesseln abnimmt. Und wir glauben an die Verantwortung, nicht nur für uns selbst, sondern für kommende Generationen.

Deutschland steht am Scheideweg. Wir können weitermachen wie bisher – in der Illusion, dass irgendwie schon alles gut gehen wird, dass die nächste Konjunkturspritze die Strukturkrise überdeckt. Oder wir können den Realitätsschock als das begreifen, was er ist: als letzte Warnung, als Chance zur grundlegenden Erneuerung, als Aufforderung, die Zukunft aktiv zu gestalten, statt sie passiv zu erleiden.

Die Wahl liegt bei uns. Aber die Zeit drängt. Denn während wir diskutieren, bauen andere die Welt von morgen. Und wenn wir nicht aufpassen, werden wir nicht nur vom Erfinder zum Nachahmer – sondern irgendwann vom Nachahmer zum Irrelevanten. Das wäre das Ende nicht nur eines Wirtschaftsmodells, sondern einer Idee: der Idee, dass Deutschland ein Land ist, das Zukunft schafft, statt sie zu verwalten.


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Schlagwörter: Konjunktur | Wirtschaft

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