Das Ergebnis der Europawahl kam wenig überraschend. Eine Bundesregierung, die in einer überaus bedrohlichen Weltlage nicht aus ihrem ideologisch Dauergezänk herauswachsen will, wird abgestraft, eine rechtsextreme, kremlfinanzierte Partei profitiert. Dieses Ergebnis hatte sich in Umfragen lange angebahnt, dennoch haben die in Teilen von Deutschland tiefblauen Wahlkarten zurecht viele Demokratinnen und Demokraten aufgeschreckt.
Was die etablierten demokratischen Parteien angesichts ihrer Bestürzung jedoch zu vergessen scheinen, ist jede Form von Selbstkritik. Das betrifft zum einen die Ampel-Parteien, die auch in dieser Lage keinen ernsthaften Versuch unternehmen, ihre jeweiligen Egos zurückzuschrauben und sich zu einem ruhigen, kompromissbereiten Regierungshandeln zu überwinden. Es betrifft allerdings ebenso eine populistische, unsachliche Union, deren Vorsitzender Friedrich Merz sich am Sonntag schon als Kanzler gewählt sah, als seine Partei knapp über einen Prozentpunkt an Stimmen dazugewinnen konnte.
Ganz generell waren die Schuldigen am Rechtsruck schnell gefunden: die Ostdeutschen. Egal, dass die AfD-Faschisten dort genau wie im Westen keine Mehrheit stellen, egal, dass zwei Drittel der Ostdeutschen diese Partei nicht gewählt haben. Die da drüben, mit denen im Westen ohnehin nur zu besonderen Anlässen geredet wird, müssen Schuld haben. Eine blaue Wahlkarte ist alles, was man im Westen braucht, um alle Ostdeutschen irgendwo zwischen Hinterwäldler und Nazi zu verorten.
Ein anderes Bild würde sich zeigen, wenn unsere kollektive Aufmerksamkeitsspanne Platz ließe für mehr als eine besorgniserregende Landkarte. Denn dann könnte man den Blick auch auf Visualisierungen der Arbeitslosenquote, des Haushaltseinkommens, der Löhne, der Anzahl an Millionärinnen und Millionären, der im Jahr gearbeiteten Stunden und der Hauptsitze wichtiger Konzerne lenken. Man darf sich die Frage stellen, ob die innerdeutsche Grenze auf einer AfD-Wahlergebniskarte sichtbar bleiben würde, wenn sie es auf all diesen Karten nicht auch wäre.
Doch nicht nur Ost- und Westdeutschland schaffen es angesichts der Gefahr von rechts und aus Russland nicht, zusammenzustehen. Auch den Demokratinnen und Demokraten im Politikbetrieb gelingt das nur lückenhaft. Nicht zuletzt zeigt sich das darin, dass CDU, FDP und SPD den weitverbreiteten Hass auf die Grünen regelmäßig selbst befeuern, wenn sie sich davon politischen Profit versprechen.
Die Grünen sind freilich genauso wenig fehlerfrei wie die übrigen eben genannten Parteien – dass sie allerdings zum Feindbild avanciert sind, liegt nicht daran, sondern an der Tatsache, dass sie in vielen Bereichen als einzige Partei den Mut aufbringen, unbequeme Wahrheiten über die nötigen Anpassungen an die Veränderungen unserer Zeit auszusprechen. Der Dank dafür scheint zu sein, ihnen die Schuld für die Existenz dieser Veränderungen zu geben. Das ist, so falsch ihre Lösungen oft sein mögen, weder angebracht noch fair.
Der Auftrag des vergangenen Sonntags an uns alle ist klar: Wir müssen anständige Bürgerinnen und Bürger werden. Das bedeutet wählen zu gehen, Politik zu machen, öffentliche Ämter nicht den Karrieristen zu überlassen – wenn denn zumindest die überhaupt noch kandidieren wollen. Es ist nicht die Zeit, mit Stammtischparolen Spaltung zu befeuern, sondern selbst Zeit zu opfern, um sich politisch zu engagieren und so überhaupt erst in Kontakt mit der Komplexität aktueller politischer Fragen zu kommen. Es gibt keine einfachen Lösungen, weder für die aktuellen Probleme noch für das aus ihnen entstehende Wahlverhalten. Aber es gibt eine aufwendige Lösung. Können wir später wirklich guten Gewissens sagen, für die keine Zeit gehabt zu haben?