Sozialliberalismus – ein kurzer historischer Überblick
Liberalismus und Sozialpolitik – diese beiden Begriffe würde heute kaum noch jemand miteinander verbinden. Dass es seit dem 19. Jahrhundert auch einen sozialen Liberalismus gibt, ist in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine Partei, die sich dem Sozialliberalismus verpflichtet fühlt, tut gut daran, sich dieser Strömung in der liberalen Ideenfamilie zu erinnern, wenn sie Konzepte für die Zukunft entwickeln will.
Schon vor der Revolution von 1848 traten reformorientierte bürgerliche Kräfte für einen demokratischen und sozialen Liberalismus ein. Die Demokraten, der entschiedene Flügel der liberalen Opposition gegen Fürstenmacht im Vormärz, formulierten 1847 ein „Offenburger Programm“. Sie forderten unter anderem ein allgemeines Wahlrecht, eine Regierung, die sich auf das Prinzip der Volkssouveränität stützt und eine progressive Einkommenssteuer. In der sozialen Frage plädierten Demokraten für einen Ausgleich von Arbeit und Kapital: „Die Gesellschaft ist schuldig, die Arbeit zu heben und zu achten.“
Die meisten Liberalen gingen auf Distanz zu ärmeren Bevölkerungsschichten. Der „Pöbel“ sollte durch ein Zensuswahlrecht politisch in Schach gehalten werden. Ein Teil dieser Liberalen leugnete die Existenz einer „sozialen Frage“; andere gründeten Bildungsvereine oder appellierten an den Arbeitswillen und die Sparsamkeit der Arbeiter.
In der Revolution 1848/49 wuchs die Kluft zwischen Demokraten und Liberalen. Als sich zehn Jahre nach dem Ende der Revolution wieder oppositionelle politische Gruppierungen zu Wort meldeten, konnten die Demokraten als eigenständige Kraft nur noch regional an Bedeutung gewinnen. Im organisierten Liberalismus gab es Ansätze, sich für die Belange der Handwerker und der anwachsenden Arbeiterschaft einzusetzen. Hermann Schulze-Delitzsch propagierte die Genossenschaftsidee. Max Hirsch und Franz Duncker riefen die Gewerkvereine ins Leben und legten damit den Grundstein für die deutschen Gewerkschaften: Arbeiter sollten sich zur Wahrung ihrer sozialen Anliegen zusammen schließen. Notfalls müssten diese Forderungen mit Streiks durchgesetzt werden. Gleichzeitig gründeten sie Unterstützungskassen, um die Arbeiter im Krankheitsfall und im Alter abzusichern.
Sozialliberale bekämpften zuerst die staatliche Sozialpolitik, die Bismarck zu Beginn der Achtzigerjahre einleitete. Sie sahen im Staat in erster Linie ein Unterdrückungsinstrument und fürchteten um die Existenz der Hilfskassen.
Erst um die Jahrhundertwende akzeptierten Liberale den Staat als Akteur in der Sozialpolitik. Friedrich Naumann räumte ein, dass es Bevölkerungsschichten gibt, die ohne staatliche Hilfe kein menschenwürdiges Leben führen können. Naumann und Theodor Barth plädierten für eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, sofern diese bereit wären, auf ihre marxistischen Grundsätze zu verzichten. Die Mehrheit der Linksliberalen stand dem jedoch distanziert gegenüber.
Nach dem Ersten Weltkrieg spielten sozialliberale Strömungen noch einmal in der Gründungsphase der Deutschen Demokratischen Partei eine Rolle. Ab 1921 setzten sich endgültig die Kräfte durch, die eine konservativere Orientierung wünschten.
Auch in der 1948 gegründeten FDP herrschte zwanzig Jahre lang ein gemäßigt-rechtsliberaler Kurs vor. 1971 verabschiedeten die Liberalen in Freiburg ein Grundsatzprogramm, mit dem sie ihren Rückstand auf dem Gebiet der Sozialpolitik aufholten. Es war der Höhepunkt einer kurzfristigen sozialliberalen Konjunktur.
Ab der Wirtschaftskrise 1974/75 konzentrierte sich die FDP im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder auf die Rolle eines bürgerlichen Korrektivs. Heute gilt die sozialliberale Phase der frühen Siebzigerjahre als „Ausreißer“ in der Geschichte der Liberalen, wie es der Politikwissenschaftler und Freidemokrat Jürgen Dittberner 2007 formulierte.
Was versteht man unter Sozialliberalismus?
Einfach hatten es Sozialliberale im organisierten Liberalismus selten. Warum? Die enge Verbindung zwischen Bürgertum und liberaler Politik führte dazu, dass viele Menschen im Liberalismus eine Ideologie zur Durchsetzung bürgerlicher Interessen sehen. Freiheit besteht darin, die Steuersätze zu senken, die Investitionsbedingungen für Unternehmer auf Kosten der Arbeitnehmer zu verbessern und mit Tempo 200 im Porsche über die Autobahn zu rasen.
Diese etwas klischeehafte Überzeichnung hat aber einen wahren Kern: Teile des Liberalismus verstehen unter Freiheit einen Abwehrbegriff, um sich gegen Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu wehren. Freiheit ist ein staatsferner Gestaltungsraum, den das Individuum nach eigenem Vermögen und Können ausweiten kann und soll. Liberale Sozialpolitik dient lediglich der Armutsbekämpfung.
Sozialliberale stellen ebenfalls das Individuum in den Vordergrund. Sie sprechen von „positiver Freiheit“. Die Politik muss sich demnach die Frage stellen, welche Mittel für möglichst viele Menschen Freiheitsräume erweitern. Mit liberaler Politik sind demnach staatliche Maßnahmen vereinbar, die darauf abzielen, mehr Freiheit für eine Vielzahl von Menschen zu schaffen. Freiheit hat also einen sozialen Bezug und kann nicht losgelöst von den wirtschaftlichen Bedingungen gesehen werden, unter denen Menschen leben.
Besteht aber hier nicht Gefahr, dass das Ergebnis ein verwässerter Sozialdemokratismus ist? Nein, wenn Sozialliberale sich daran orientieren, dass ihre Politik dem Ziel dienen soll, Freiheitsmöglichkeiten für eine Mehrzahl der Menschen zu schaffen und dass der Liberalismus dem Schutz von Minderheiten dient.
Zwei Beispiele:
Betriebliche Mitbestimmung schränkt das Recht des Eigentümers ein. Das Recht auf Eigentum ist aber ein urliberales Recht eines jeden Menschen. In einer arbeitsteiligen Wirtschaft geht eine Mehrheit einer lohnabhängigen Beschäftigung nach. Einschränkungen der Verfügungsgewalt über das betriebliche Eigentum können also die Individualrechte der Arbeitnehmer stärken. Eine sozialliberale Lösung würde ein Mitbestimmungsrecht anstreben, das aus dem Fabrikuntertan den Industriebürger macht, um an ein Wort von Friedrich Naumann anzuknüpfen. Ein Mitbestimmungsgesetz, das dem Unternehmer die Verfügungsgewalt über das Eigentum nimmt, wäre demnach mit sozialliberalen Prinzipien ebenso wenig vereinbar wie ein Gesetz, dass nur die Position von Gewerkschaftsvertretern stärkt.
Bezahlbarer Wohnraum in Großstädten wird immer mehr zum Problem. Wie kann Abhilfe geschaffen werden? Eine klassisch liberale Lösung würde darin bestehen, die Bedingungen für Investoren zu Lasten der Mieter zu verbessern, weil so angeblich mehr Wohnungen gebaut werden. Weniger Mieterschutz und keine staatliche Begrenzung von Mietpreisen wären die Folge. Ob dadurch mehr Angebot auf dem Wohnungsmarkt entsteht, ist jedoch sehr zweifelhaft.
Eine sozialistische Lösung wäre die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung des Wohnungsbaus, wie es im Augenblick in Berlin diskutiert wird. Allerdings müssten die bisherigen Eigentümer entschädigt werden. Die dafür erforderlichen Summen stünden für Investitionen nicht mehr zur Verfügung. Und ob der Staat besser wirtschaftet, ist nicht sicher. Der Wohnungssuchende wäre auf die öffentliche Hand angewiesen und wird zum Bittsteller der Bürokratie. Ein Ausweg könnte der genossenschaftliche Wohnungsbau sein. Voraussetzung dafür aber wäre, dass der Staat den Wohnungsbaugenossenschaften wieder die Gemeinnützigkeit zuerkennt, um diese Form der Gemeinwirtschaft attraktiver zu machen.
Sozialliberale Politik ist jedoch keine Wundertüte, die für jedes Problem die ideale Lösung hat.
Was bedeutet das für die Liberalen Demokraten?
Der Sozialliberalismus verfügt über eine Reihe von Instrumenten, um Politik wirkungsvoll zu gestalten. Die Sozialdemokratie und die GRÜNEN haben sozialliberale Inhalte übernommen. Auch mancher Christdemokrat wie der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein gelten als sozialliberal.
Sozialliberalismus, als Mainstream? Zumindest scheint die Marke Sozialliberalismus eine Zukunft zu haben. Gilt das auch für eine Partei, die sich sozialliberal nennt?
Der Rückblick in die Geschichte scheint nicht sehr ermutigend zu sein. Sozialliberale saßen oft zwischen den Stühlen. Im organisierten Linksliberalismus galten sie als Sozialromantiker, in der Sozialdemokratie als merkwürdige Paradiesvögel. Bei den GRÜNEN scheinen viele Sozialliberale eine politische Heimat gefunden zu haben.
Wunder gibt es in der Politik selten – auch die Liberalen Demokraten sollten nicht darauf hoffen. Neben dem Werben um neue Mitglieder und der verstärkten Präsenz in den sozialen Medien sollte die Partei weiter an einem sozialliberalen Profil arbeiten, das stärker auf Probleme wie Wohnungsnot eingeht. Tierschutz ist ein wichtiges Anliegen, nimmt jedoch mehr Platz ein als die Außen- und Sicherheitspolitik. Vor allem sollte man sich davor hüten, unter Sozialliberalismus ein Sammelsurium von zum Teil linksradikalen Inhalten zu verstehen. Bei den Jungdemokraten, bis 1982 Nachwuchsorganisation der FDP, tummelten sich Mitglieder, die für Vergesellschaftung und Gewalt gegen Sachen warben.
Ob es gelingt, aus eigener Kraft in Parlamente einzuziehen, erscheint zurzeit fraglich. Eines jedoch können die Liberalen Demokraten auf jeden Fall leisten: Eine programmatische Plattform zu bilden, die den Sozialliberalismus als politische Option nicht in Vergessenheit geraten lässt.
Wer mehr über die Freiburger Thesen wissen möchte, kann hier nachlesen:
Dr. Katharina Kellmann
Dr. Katharina Kellmann studiere von 1992 bis 1998 an der Fernuniversität Hagen Geschichte mit den Nebenfächern Jura und Soziologie und erwarb den Magisterabschluss. Sie promovierte dort mit einer Arbeit über den sozialliberalen Politiker Anton Erkelenz.
Sie veröffentlichte in Fachzeitschriften und in Handbüchern Aufsätze zur Geschichte des deutschen Liberalismus, der Sozialdemokratie, zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert und zur Weimarer Republik.
Hinweis: Gastautor_in
Für unsere Gastbeiträge laden wir Expert_innen auf ihrem jeweiligen Gebiet ein, um unsere Leser_innen über dieses und ihre diesbezüglichen Ansichten zu informieren. Die Autor_innen stehen in keiner direkten Verbindung zu den Liberalen Demokraten und geben nicht die Ansichten der Liberalen Demokraten wieder.