Wenn Krankheit zur Pflichtverletzung wird

Von Josephine Lode

Die neue Bürgergeldreform wird härter sanktionieren und beinhaltet auch die Möglichkeit, Wohnkosten nicht zu übernehmen und Leistungen vollständig zu streichen. Konkret bedeutet das: Wer zwei Termine beim Jobcenter versäumt, verliert 30 Prozent der Leistung. Beim dritten Termin wird die Geldleistung komplett gestrichen. Wer auch danach nicht erscheint, verliert selbst die Übernahme der Mietkosten.

Einige Menschen nennen das gerecht und finden, dass Bürgergeldempfänger:innen bestraft werden müssen, die nicht mitwirken. Dabei wird oft vergessen, dass unser Sozialsystem nicht nur die Empfänger:innen auffängt. Jeder einzelne von uns profitiert vom Sozialsystem und der Sicherheit, in harten Zeiten nicht unendlich tief zu fallen. Denn die Transferleistungen bieten bisher eine Grundversorgung, die sicherstellt, dass Menschen ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch haben. Diese Sicherheit ist ein Gesellschaftsvertrag, der dazu beiträgt, dass wir alle in einem sicheren Land leben. Wir brauchen keine Mauern um unsere Häuser und können auch nach Einbruch der Dunkelheit noch spazieren gehen. Denn Menschen, die an unserer Leistungsgesellschaft nicht teilhaben können, sind versorgt und nicht gezwungen, illegal ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch das ist eine Form von Freiheit.

Die Bundesregierung brüstet sich damit, die Sanktionen „bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“ zu verschärfen. Doch diese Grenze wurde bereits definiert: Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 entschieden, dass ein vollständiger Leistungsentzug mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Das Existenzminimum ist keine Verhandlungsmasse, es ist ein Grundrecht. Wer Menschen die Lebensgrundlage entzieht, weil sie Termine versäumen, handelt nicht an der Grenze des Verfassungsrechts – sondern jenseits davon.

Es geht nicht darum, signifikant Ausgaben bei den Sozialleistungen einzusparen – damit rechnet die Bundesregierung selbst nicht. Es geht darum, Druck auszuüben und Menschen zu bestrafen. Welchen Zweck dies erfüllen soll, bleibt offen. Es ist zu bezweifeln, dass Menschen, die in Tätigkeiten gezwungen werden, gute Arbeitnehmer:innen abgeben werden. In vielen Gegenden fehlen zudem schlicht die Jobs. Gleichzeitig sind viele Jobcenter überlastet, Fachkräfte fehlen, die Antragsbearbeitung dauert oft monatelang. Durch den hohen Druck innerhalb der Behörden häufen sich Fehler, die Beschwerdeabteilungen ächzen unter der Masse der Widersprüche, ebenso die Sozialgerichte. Durch neue Sanktionsverfahren wird die Arbeitslast noch erhöht – und mit ihr die Fehlerquote. Die Regierung verspricht Einsparungen von einer Milliarde Euro. Was sie verschweigt: Der bürokratische Aufwand für Sanktionsfeststellung, Anhörungsverfahren und Widerspruchsbearbeitung wird einen Großteil dieser Summe wieder auffressen. Wir schaffen ein System, das mehr Energie darauf verwendet, Menschen zu kontrollieren und zu bestrafen, als sie tatsächlich in Arbeit zu bringen.

Zwar sollen psychisch Erkrankte vor Sanktionen geschützt werden. Der Nachweis über eine psychische Erkrankung wird aber zur Unmöglichkeit, wenn psychiatrische Praxen keine Patient:innen mehr aufnehmen und Kliniken hoffnungslos überfüllt sind. Wartezeiten von mehreren Monaten auf einen Therapieplatz sind die Regel, nicht die Ausnahme. Wie soll jemand, der unter schweren Depressionen leidet und deshalb Termine nicht wahrnehmen kann, rechtzeitig ein Attest vorlegen?

Hier liegt ein grundsätzliches Problem: In der öffentlichen Debatte werden Arbeitslose und Arbeitsunfähige in einen Topf geworfen. Medial werden sogenannte „Totalverweigerer“ inszeniert, während die überwältigende Mehrheit der Leistungsempfänger:innen entweder aktiv Arbeit sucht, bereits arbeitet und aufstocken muss, oder schlicht nicht arbeitsfähig ist. Die Wut auf einige wenige trifft Millionen, die nichts lieber täten, als einer Arbeit nachzugehen.

Es geht auch anders

Wir Liberale Demokraten fordern einen anderen Weg: die klare Trennung von Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit. Heute landen beide Gruppen im selben System – dem Jobcenter. Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder psychischen Belastungen nicht arbeiten können, werden dort mit denselben Maßnahmen konfrontiert wie Menschen, die lediglich einen neuen Job suchen: Bewerbungstrainings, Eingliederungsvereinbarungen, Sanktionsdrohungen. Die bestehende Erwerbsminderungsrente greift erst, wenn die Arbeitsunfähigkeit bereits umfassend nachgewiesen ist – ein Prozess, der Jahre dauern kann und viele Menschen im Niemandsland zwischen Jobcenter und Rentenversicherung zurücklässt.

Wir fordern deshalb eine grundlegende Reform: Die Erwerbsminderungsrente muss zu einer gesetzlichen Erwerbsunfähigkeitsversicherung weiterentwickelt werden, in die alle Erwerbstätigen verpflichtend einzahlen. Diese Versicherung soll Menschen, die nicht arbeiten können, vollständig aus dem Jobcenter-System herauslösen und ihnen eine eigenständige Absicherung bieten – deutlich über der Armutsgrenze und ohne den entwürdigenden Zwang, sich ständig für die eigene Krankheit rechtfertigen zu müssen.

Für alle anderen brauchen wir statt eines Systems, das Menschen unter Druck setzt und bestraft, ein faires Grundeinkommen: eine sanktionsfreie Grundsicherung, die das Existenzminimum garantiert und Menschen die Freiheit gibt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die durch den Wegfall der Sanktionsbürokratie frei werdenden Kapazitäten in den Jobcentern könnten endlich für das eingesetzt werden, was sie eigentlich leisten sollten: individuelle Beratung, sinnvolle Weiterbildung und echte Unterstützung bei der Arbeitssuche.

Denn eines ist klar: Wer Menschen in Arbeit bringen will, erreicht das nicht durch Angst und Strafe. Sondern durch Chancen, Qualifizierung und die Sicherheit, auch in schweren Zeiten nicht fallen gelassen zu werden.

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